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Test - Flight Simulator : Meisterwerk, das ein ganzes Genre neu definiert

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Selten gibt es hochspezialisierte Spartenspiele, die Meilensteine ihrer Genres darstellen und zugleich einen Durchbruch auf dem Massenmarkt manifestieren. Bestes Beispiel wäre Sonys Gran Turismo, das trotz seiner hohen Zugänglichkeit von E-Sportlern und Sim-Profis akzeptiert wird, weil der Simulationsanteil für diese Klientel akkurat genug ist, um zwei Welten miteinander zu verschmelzen. Mit dem Microsoft Flight Simulator gelingt Asobo Studio (A Plague Tale: Innocence) dasselbe Kunststück in einem Genre, das bislang als furztrockenes Nerd-Heiligtum galt.

Vergesst alles, was ihr über Flugsimulatoren zu wissen glaubtet, denn heute beginnt eine neue Ära. Heute ist der Tag, an dem Flugsimulatoren den Massenmarkt erreichen und jeden, der schon immer mal fliegen wollte, mit Freude erfüllen. Der Tag, an dem ein hochkomplexes Genre aufgrund stilistischer Kniffe neu wahrgenommen und sogar konsolentauglich wird, ohne seinen Anspruch zu verlieren.

Gleichzeitig endet für Microsoft ein langer Leidensweg. Endlich hat auch Team Grün ein Spiel, an dem sich der Rest der Branche in Zukunft messen muss. Ja, Halo, Gears und Forza Motorsport sind sehr gute Spiele und sie haben seit jeher in der Schwergewichtsklasse ihrer Genres mitgemischt. Aber sie waren immer nur Alternativprodukte, sozusagen Weiterentwicklungen auf die großen genredefinierenden Meilensteine von Sony und Nintendo – so etwa Halo als Antwort auf Golden Eye, den ersten Konsolen-Shooter mit ausgereifter Steuerung und maßgebendem Levelaufbau. Oder eben Forza als Konkurrent zum bereits erwähnten Gran Turismo bei den Racing-Sims.

Der Microsoft Flight Simulator ist somit mehr als nur ein Spiel oder einfach nur die nächstbeste Iteration einer Serie, die immerhin schon seit 1982 besteht. Es geht um ein Patentrezept, mit dem man Otto-Normal-Verbraucher, die sich sonst nicht um Flugsimulatoren scheren würden, in Enthusiasten verwandelt, die sich kurze Zeit später womöglich spezialisierte Hardware wie etwa ein Steuerhorn samt Ruder-Pedale zulegen.

Dabei geht es gar nicht um besonders viel handfesten Spielinhalt. Man steigt in ein Flugzeug, hebt ab und fliegt irgendwohin, wo man dann wieder landet. Abseits kleiner Herausforderungen wie etwa besonders kniffligen Landeszenarien und einer Cessna-Flugschule gibt es nicht mehr zu tun als schlicht herumzufliegen, und doch fesselt das Rezept für Stunden, Wochen und Monate an den Bildschirm.

What a wonderful World

Ein wichtiger Bestandteil dieses Rezepts ähnelt dem, das auch anno dazumal Gran Turismo so attraktiv machte. Es geht um die Vereinigung von hoher Authentizität mit sehenswerter Grafik. Allerdings auf einem Niveau, das bisher unerreicht war, denn der neue Flugsimulator erlaubt euch, an jeden beliebigen Ort der Welt zu fliegen und eine realistische Ansicht dieses Ortes zu erleben.

Wir sprechen hier nicht vom „ach ist das schön“-Level üblicher aktueller Games und auch nicht von einem “sieht doch recht realistisch aus“ eines lasergescannten Rennkurses. Gemeint ist ein unschlagbarer „Scheiß die Wand an - ich kann mein Haus sehen“-Realismus, gepaart mit einer „Zwick mich, ich glaub ich träume“-Grafik höchster Güteklasse.

Zugegeben, die Grafik ist nicht ganz frei von Macken, gerade wenn es um die Entdeckung realer städtischer Orte geht, denn Gebäude und Straßen extrapoliert der Flight Simulator anhand von Satellitenbildern aus der Bing-Maps-Bibliothek. Dadurch wirken einige Fassaden verzerrt oder unscharf, und auch die Gebäudeform stimmt nicht immer hundertprozentig. Je tiefer man fliegt, desto ungenauer wird es. Angesichts der Tatsache, dass man jeden noch so kleinen Fleck auf dem Planeten Erde virtuell besuchen kann, sind das jedoch Details, die nicht ins Gewicht fallen, sozusagen Pixelfehler in einer unüberschaubar riesigen Bildmatrix.

Ausnahmen bestätigen die Regel. Ganz besondere Stadtmerkmale, die mitunter so groß sind, dass deren Darstellung unter einer einfachen Extrapolierung leiden würde, wie etwa die Skyline von Manhattan oder der Berliner Fernsehturm, werteten die Entwickler mithilfe dedizierter Modelle auf. Das gilt auch für eine Reihe von Flughäfen, aber dazu später mehr.

Die wahren Qualitäten der Grafik findet man erst, wenn man mit einem der zwanzig standardmäßig enthaltenen Flugzeuge in luftigen Höhen herumdüst. Der weite Blick über die Landschaften der Welt ist ein zauberhaftes Erlebnis, bei dem man Louis Armstrongs „What a Wonderful World“ zitieren möchte.

I see seas of green, red roses too, I see them blue, before me and you
(…)

The colors of the rainbow so pretty in the sky
Or also on the faces of people going by“

Egal ob südamerikanisches Eiland oder Lüneburger Heide – nur zu wissen, dass diese Orte wirklich existieren und zwar genau so, wie sie sich in diesem Spiel dem Auge offenbaren, birgt eine Faszination, der man sich nur zu gerne hingibt. Wenn zugleich noch feine, fluffige volumetrische Wolken den Himmel füllen, deren weiße Wattebällchen das HDR-Orange der aufgehenden Sonne trinken, muss man schon ein ganz harter Brocken sein, um nicht sentimental zu werden. Es gibt derzeit kein anderes Videospiel, das hochgradigen Realismus und künstlerische Darstellung auf dem gleichen Niveau vereint.

Und das auch noch mit einer unglaublichen Flexibilität. Ihr könnt auf Knopfdruck jedes erdenkliche Wetter und jede Tageszeit einstellen – auch mitten im Flug. Oder ihr fliegt bei tagesaktuellen Verhältnissen, also der aktuellen Zeit in der gewählten Region, inklusive Wetter und vorherrschendem Flugverkehr. Irre!

Da raucht der Rechner

Wer jetzt schon Next-Gen-Luft schnuppern will, kommt am Flight Simulator nicht vorbei. In jeder erdenklichen Kategorie schneidet die grafische Darstellung mit höchster Punktzahl ab. Egal ob direkte Sonneneinstrahlung oder indirektes Ambiente, ob Wettereffekte wie Regen und Schnee oder einfach nur Mondlicht, alles wirkt in hohem Maße authentisch und zugleich ansehnlich, ohne den Bogen zu überspannen.

Das gilt ebenso für das Innere und Äußere der Flugzeuge. Abhängig davon, welche der drei Editionen der Flight Simulator ihr euch zulegt, sind 20, 25 oder 30 Flugzeuge enthalten. Darunter Kleinflugzeuge, ein Wasserflugzeug, ein alter Doppeldecker, aber auch moderne Privat-Jets und Linienflieger. Nur Militärflugzeuge bleiben außen vor. Sie wurden alle bis zur letzten Schraube nachmodelliert und sehen absolut authentisch aus. Armaturen, Knöpfe, Knäufchen und Pedale im Cockpit bewegen sich und können einen fotorealistischen Touch vorweisen. Nur wirklich fliegen ist schöner!

Die Augenweide hat natürlich ihren Preis. Selbst auf High-End-PCs läuft das Programm nicht durchgehend flüssig, beziehungsweise muss man die Grafik-Voreinstellung schon mächtig herunterschrauben, um beim Landeanflug auf New York oder andere dicht besiedelte Gebiete noch volle 60 Bilder pro Sekunde zu wahren. Wobei glatte 60 FPS auch nicht zwingend nötig sind. Mit einer Bildrate um die 40 Zähler wirkt der Flugsimulator noch sehr flüssig und die Flugkontrolle entsprechend reaktionsfreudig.

Je niedriger das gewählte Grafikniveau, desto mehr Realismus-Rausch geht flöten, weil beispielsweise Landschaftsdetails auf der „Medium“-Einstellung erst spät ihre korrekte Form erhalten. Berge und Hügel ändern ihre Größenverhältnisse in Sichtweite, Bäume tauchen spät auf und so weiter. Mit einer Grafikkarte unterhalb der Leistungsklasse einer Geforce RTX 2070 ist an Auflösungen jenseits von 1080p nicht zu denken, sofern man einen einigermaßen realistischen Eindruck von der Landschaft behalten möchte. Trotz mehrerer sekundärer Anpassungsmöglichkeiten wie etwa der Wahl der Kantenglättungsmethode oder dem Senken der intern berechneten Auflösung vor der Ausgabe bleibt das Spiel sehr leistungshungrig.

Diese Angaben sollen Besitzer schwächerer Rechner nicht abschrecken. Das Spiel verfügt über viele detaillierte Skalierungsoptionen für die Grafikqualität und läuft somit auch locker auf einem etwas älteren i5 samt Geforce 1050, sofern man mit entsprechenden Einbußen in der optischen Realismus-Qualität leben kann. Darum dürfte der Flight Simulator irgendwann in der Zukunft auch auf der schwachen Xbox One seinen Dienst verrichten. Wir sind schon gespannt, wie das Endergebnis dort aussehen wird.

Wobei ein weiterer Faktor bei den Grundvoraussetzungen im Datenverbrauch über das Internet liegt. Den darf man nicht unterschätzen. Da sämtliche Umgebungsdaten inklusive Echtzeit-Wetter und Flugdaten realer Flugzeuge von Microsofts Servern angefordert werden, gehen nach einigen Spielstunden mehrere Gigabytes über den Äther. Offline fliegen ist ebenfalls eine Option, doch dann werden die Umgebungen nur grob nachgestellt und viele Grafikelemente zufällig generiert.

Realismus für jedermann

Genug von der Grafik. So schön sie auch ist, sie würde ihre Wirkung verfehlen, wenn nur ausgebildete Piloten und lernwillige Nerds diesen Ausblick in vollen Zügen genießen könnten. Der zweite wichtige Punkt im neuen Patentrezept des Microsoft Flight Simulator ist die Zugänglichkeit, die jedermann, von der unbedarften Hausfrau bis zum Air-Force-Piloten, das Fliegen auf einem verständlichen Niveau näherbringt. Je nachdem, welches Anspruchsniveau man im Hauptmenü wählt.

Auf dem niedrigsten Anspruchslevel steuert sich das Spiel nicht viel komplizierter als Nintendos Pilotwings. Alle Vorgänge abseits der reinen Steuerung in der Luft werden automatisiert und Umwelteinflüsse bleiben rücksichtsvoll. Was bleibt, ist der Simulationsanspruch der Physik, welche anhand Tausender Einzeldaten das Verhalten des Flugzeugs simuliert. Ein Jumbojet verwandelt sich also nicht in einen Papierflieger. Er bleibt ein träges Walross der Lüfte, egal, wie viele Steuerungshilfen man zuschaltet.

Interessanterweise steuert sich das Ganze mit so ziemlich jedem denkbaren Steuergerät in etwa gleich gut. Mit einem Xbox-One-Joypad gelingen Landungen genauso sanft wie mit Maus und Tastatur. Wir haben sogar ein Racing-Lenkrad ausprobiert und abseits des fehlenden Höhenruders, das wir alternativ belegen mussten, keine bemerkenswerten Nachteile festgestellt.

Aus eigener Erfahrung wissen wir aber auch, dass ein gutes Steuerhorn Vorteile hat, wenn es um Präzision und Authentizität geht. Die Landung eines Jumbos bei starkem Seitenwind kann nämlich durch den geringen Aktionsradius eines Joypad-Analogsticks in nervenaufreibende Fummelei ausarten. Mit einem authentischen Yoke wird die Fummelei bei derselben Landung nicht weniger stressig, aber feinfühlig auslotbar. Vom realistischeren Spielgefühl ganz zu schweigen.

Sobald die Ansprüche steigen, lassen sich diverse Hilfen abschalten und der Schwierigkeitsgrad hochdrehen, was die Komplexität der Steuerung ebenfalls steigert. Und zwar auf mehreren Ebenen. Einerseits gilt es, das Flugzeug insbesondere bei Start und Landung besser auszubalancieren, andererseits kommen irgendwann so viele Steuerungsbefehle dazu, dass man um eine zusätzliche Verwendung der Tastatur (oder etlicher Zusatzmodule für das Steuerhorn) nicht herumkommt.

Navigation, Funk, Treibstoffgemisch, Enteisung, Leuchtelemente … die Liste der Steuerungselemente ist so lang, dass sie im Optionsmenü ewig langes Scrollen voraussetzt, wenn man alles belegen will. Selbst über diverse Knopf-Kombinationen passen nicht alle Befehle auf einen normalen Konsolen-Controller, daher sind wir schon gespannt, wie das alles irgendwann auf der Konsole gehandhabt wird. Zumal es das Gedächtnis stark strapaziert. Man muss sich nicht nur komplexe Funktionen merken, sondern auch, wo sie in einer abstrakten Priorität auf Controller und/oder Tastatur liegen.

Workarounds gibt es zu genüge. Wir haben uns ein Elgato-Stream-Deck geschnappt und die wichtigsten Befehle schlicht auf Hotkeys gelegt, die wir auf den frei definierbaren LCD-Buttons ablesen können. Wer es authentischer mag, kann aber auch die Regler im virtuellen Cockpit bedienen.

Vom Anfänger zum Flieger-Ass

Wie zuvor erwähnt wurden die Cockpits sämtlicher Flugzeuge bis ins letzte Detail nachmodelliert – inklusive aller beweglichen Teile. Das ist nicht nur ein optisches Gimmick. Wer will, darf sämtliche Bedienelemente eigenhändig per Mauscursor verwenden, also Knöpfe drücken, Hebel verstellen und so weiter. Das erspart euch das Auswendiglernen etlicher Steuerungs-Kombinationen an Joypad und Tastatur, setzt aber voraus, dass ihr euch im Cockpit des jeweiligen Fliegers auskennt.

Wir gehen davon aus, dass die wenigsten virtuellen Hobbypiloten diese Expertise mitbringen, aber man lernt ja nie aus. Die Bedienungsanleitung der Flugzeuge findet ihr im Internet beim jeweiligen Hersteller der Echtwelt-Gegenstücke, und ihr werdet jedes noch so kleine Detail, das dort aufgeführt wird, auch im virtuellen Cockpit finden. Probieren geht über Studieren, wobei man auch dem optionalen KI-Piloten zuschauen und von ihm lernen kann.

Immerhin: Den Einstig erleichtern euch die Entwickler über eine kurze Flugeinweisung in einer Cessna. Wo liegen welche Instrumente und wie liest man sie? Was sind typische Verhaltensregeln in der Luft? Wie navigiert man ohne GPS? All das lernt ihr in acht Crashkurs-Übungen. Ein wenig mehr Tutorial-Umfang wäre sicherlich nicht schlecht gewesen. Gerade solche komplizierten Sachen wie Funkverkehr oder Treibstoff-Management werden überhaupt nicht angesprochen, aber dafür gibt es etliche Communitys im Netz, an die man sich wenden kann.

Das wäre die einzige nennenswerte negative Kritik, die in diesem Test Gewicht hat. Abseits der Weltumrundung frei nach Schnauze ist der Spielinhalt nämlich ein wenig sporadisch, um nicht zu sagen mager. Mehr Tutorials und vielleicht ein paar zusätzliche Geschicklichkeits-Herausforderungen hätten nicht geschadet. Beispielsweise Trickflug-Aufgaben mit einer Propellermaschine, Tiefflug-Challenges, und Ähnliches. Erweiterungen jeglicher Art sind aber möglich, denn der Flight Simulator ist als langfristiges Projekt mit Community-Beteiligung ausgelegt. Zusätzliche Flugzeuge und Spielmodi könnten als Mods folgen.

Microsoft Flight Simulator - X019 Gameplay Trailer
Im Rahmen der X019 hat Microsoft weitere Flugzeuge im kommenden Microsoft Flight Simulator vorgestellt.

Hoffentlich gilt das auch für Landschaftsdetails und Flughäfen. Es gibt zwar schon jetzt Tausende nutzbare Flughäfen rund um den Globus, von der winzigen Hinterhof-Landebahn bis zum internationalen Drehkreuz, aber nur wenige wurden mitsamt allen Gebäuden ausmodelliert. Darunter kein einziger deutscher Flughafen abseits von Frankfurt am Main, der zudem nur in der teuersten Edition enthalten ist.

Das ist unterm Strich kein Beinbruch. In unseren Testflügen sind wir zum Beispiel mehrmals auf dem Flughafen Berlin-Tegel gelandet und waren mit dem von Bing Maps extrapolierten Modell durchaus zufrieden. Aber wenn man so ein umfangreiches Echtwelt-Paket vorgesetzt bekommt, steigen die Ansprüche schnell.

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