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Test - Déraciné : Geistergeschichte von den Dark-Souls-Machern

  • PS4
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Kann From Software noch etwas Anderes als Dark Souls? Die Frage erübrigt sich eigentlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass das Entwicklerstudio schon 20 Jahre vor seinem „Durchbruch“ mit besagtem Harcore-Spiel existierte und sich in der Zwischenzeit in unterschiedlichsten Genres austobte: Rollenspielen, Roboter-Ballereien und völlig durchgeknallter Ninja-Action zum Beispiel. Und nun: ein besinnliches VR-Erlebnis zwischen Virtual Novel und 3D-Adventure.

Als Déraciné auf der diesjährigen E3 angekündigt wurde, geschah das nicht mit großem Brimborium auf der Bühne der Sony-Pressekonferenz und marktschreierischen Slogans wie „Das neue Spiel der Dark-Souls-Macher!“, sondern im Gegenteil sehr kleinlaut, fast schon schüchtern versteckt in der After-Show. Vermutlich wollte man damit die Erwartungen von Anfang an nicht zu hoch schrauben, denn Déraciné ist passend zu seiner Enthüllung eher bedächtig, leise, bescheiden und um einige Dimensionen kleiner als die Großproduktionen, die das Studio sonst mittlerweile abliefert.

Dabei zeichnet niemand Geringeres als Hidetaka Miyazaki, der Dark-Souls-Erfinder persönlich, dafür verantwortlich, der aufgrund des großen Erfolges seiner Spiele mittlerweile sogar im Vorstand von From Software sitzt. Mit Déraciné probiert er sich an etwas völlig Neuem: einer interaktiven Geister-Kurzgeschichte in Virtual Reality.

Geisterstunde à la Miyazaki

Déraciné erzählt zwar eine Geistergeschichte, ist aber keinesfalls eine Gruselmär. Stattdessen ließ sich Miyazaki von japanischer Geisterfolklore inspirieren, deren gute Hausgeister im westlichen Verständnis eher mit der Vorstellung von Schutzengeln oder Feen zu vergleichen sind. In der Rolle eines solchen Geistes sucht ihr ein altes Waisenhaus heim und freundet euch mit den dort lebenden Kindern an.

Als Geist existiert ihr gewissermaßen jenseits von Raum und Zeit. Die Kinder nehmen allenfalls eine wage Ahnung von eurer Präsenz wahr. Die Möglichkeiten, mit ihnen in Kontakt zu treten, sind erheblich beschränkt. Lediglich kleine Manipulationen der Umgebung wie das Verrücken eines Gegenstandes weisen auf eure Existenz hin.

Im Kosmos von Miyazaki steht die Zeit für Geister still. Das Geschehen von Déraciné befindet sich in einem eingefrorenen Zustand ewiger Gegenwart, als hätte jemand die Pause-Taste gedrückt und damit die Realität angehalten. Wie zu Stein erstarrte Statuen verharren die Kinder in ihrer Bewegung, während ihr durch das Waisenhaus geistert, Briefe und Aufzeichnungen der Bewohner lest und ihren Gedanken lauscht, die kleine Einblicke in ihr Seelenleben geben. Erst wenn ihr das Kapitel quasi abgeschlossen habt, dreht ihr die Zeit um ein paar Tage, Wochen oder auch nur Stunden vor, um von den Auswirkungen eures Handelns zu erfahren.

Zu Beginn der Geschichte seid ihr lediglich stiller Zeuge recht alltäglichen Geschehens: Die Kinder kochen Suppe, spielen einander Streiche und planen ein munteres Konzert zu Ehren ihres neuen Hausgeistes. Doch dann verletzt sich eines der Mädchen schwer und ihr werdet gebeten, durch die Zeit zu reisen, um den Unfall in der Vergangenheit zu verhindern, bevor er geschieht. Doch wie so häufig in solcherlei Geschichten beschwören Veränderungen der Zeitlinie unvorhersehbare Konsequenzen herauf, die mit jedem Eingriff das Lösen des Knotens verheißen, das Knäuel aber letztlich nur noch weiter verwirren, bis es daraus kein Entkommen mehr gibt …

Thematisch geht Déraciné damit in eine ähnliche Richtung wie Life is Strange oder der Film Butterfly Effect, bleibt dabei aber deutlich zurückhaltender in seinem Tonfall, leider aber auch in seiner inhaltlichen Tiefe. In Déraciné geht es nicht um schicksalhafte Entscheidungen, die den Verlauf der Geschichte beeinflussen, oder um die Wucht der Emotionen, die sie bewirken, sondern um die Art und Weise, wie im Erleben eines virtuellen Raums eine Geschichte weniger erzählt, als vielmehr erfahrbar gemacht werden kann. Ziemlich artsy-fartsy also im Grunde ...

Die Welt steht still

Im Mittelpunkt dieser Erfahrung steht demzufolge der Ort des Erlebens selbst: das Waisenhaus, das für sich genommen schon wie aus der Zeit gefallen scheint. Wann genau Déraciné spielt, wird nie abschließend geklärt, ungefähr vor 100 Jahren muss es wohl sein, jedenfalls aber in einer Epoche, die man mit „Es war einmal ...“ überschreiben möchte. Ein zarter Hauch von Vergänglichkeit und Stillstand hängt über der ganzen Szenerie und durchdringt jedes antike Möbelstück und jedes Staubkorn, das in der stickigen Luft der sonnendurchfluteten Gänge schon seit Ewigkeiten dort zu schweben scheint.

Jeder Raum ist vollgestopft mit hölzernen Konstruktionen wie alten Vogelkäfigen, Modellzeppelinen und sonderbarem Werkzeug, Gerümpel, das sich dort über Jahre und Jahrzehnte angehäuft hat. Alles an diesem Ort erweckt den Eindruck, als stünde die Zeit auch unabhängig von eurer Existenz als Geist schon eine ganze Weile still - wie es auch die überall anzutreffenden Trockenblumen oder unter Glasglocken konservierte Tiere versinnbildlichen, die wie das ganze Spiel ihrer Zeit entrissen und im Moment für die Ewigkeit erstarrt sind.

Aus der Perspektive der Playstation-VR-Brille gestaltet sich das als faszinierende Erfahrung. Der gesamte Schauplatz wirkt erstaunlich plastisch und besitzt darin die Anmutung eines Puppenhauses, das ihr wie ein neugieriges Insekt erkundet, während ihr selbst nahezu unbemerkt bleibt. Immer wieder fühlt sich Déraciné an wie der Ausflug in die animatronischen Szenerien einer verlassenen Geisterbahn, deren Puppen immer nur für kurze Augenblicke aus ihrer Starre wieder zum Leben erwachen, um ihre Geschichten preiszugeben.

Im Zentrum von Déraciné steht dabei weniger die Geschichte selbst, sondern die Art und Weise, wie das Spiel sie erzählt. Und darin ist es mehr als nur außergewöhnlich. Déraciné vermittelt seine Geschichte nicht bloß an seinen Zuschauer, sondern es macht ihn zum unmittelbaren Teil ihrer Welt. Wie ein stiller Beobachter werdet ihr Zeuge des Geschehens um euch herum, mischt euch heimlich unter die Menschen und nehmt so Anteil an ihrem Leben. In Déraciné erlebt ihr die Geschichte nicht als Konsument, als Zuschauer oder Leser, sondern als unsichtbarer Voyeur.

Doch Déraciné ist viel mehr als lediglich ein Film, der mithilfe der VR-Brille von innen heraus erkundet wird. Indem es die Zeit anhält, macht es die Rekonstruktion der Geschichte zu seiner zentralen Aufgabe, weil der Spieler selbst die Lücken im Davor und Danach füllen muss – eine Erzählstrategie, die Miyazaki in etwas anderer Weise schon in Dark Souls erfolgreich anwendete. Auf gewisse Weise betrachtet ähnelt Déraciné darin einem Comic oder noch mehr einem Wimmelbildbuch, deren Handlung ja ebenfalls auf einen Gegenwartsmoment kondensiert ist und sich erst im Zusammenwirken seiner Elemente zu einem Geschehen erschließen lässt. Nur dass man im Falle von Déraciné das Bild nicht mit seinen Augen nach und nach durchmisst, sondern es als virtuellen Raum erlebt, in dem man Zuschauer und Protagonist zugleich ist.

Nichts Halbes, nichts Ganzes

Die Ausführungen der letzten Absätze mögen etwas weit hergeholt und überinterpretiert klingen, doch ist zunächst ein Verständnis dessen notwendig, was Déraciné eigentlich ist bzw. sein will, weil es ansonsten zu leicht wäre, es einfach nur in der Luft zu zerreißen. Gemessen an seinen künstlerischen Ambitionen sind die Gründe für sein Scheitern verhältnismäßig banal. Vereinfacht ausgedrückt lauten sie schlicht: Gameplay und Story sind ziemlicher Murks.

Déraciné teilt viele seiner Gameplay-Aspekte mit klassischen Adventurespielen, versagt an ihnen aber auf eine Weise, die nicht anders als kläglich genannt werden kann. Eure Aufgaben bestehen meist darin, das gesamte Haus nach einem bestimmten Gegenstand abzusuchen, der gerade irgendwo gebraucht wird, oftmals aber gar nicht so leicht zu finden ist. Im ersten Kapitel beispielsweise müsst ihr fünf Kräuter auftreiben, um damit eine Suppe zu verfeinern. Was als erzählerische Einführung zum Kennenlernen von Schauplatz und Charakteren gedacht ist, verkommt wie fast alles im Spiel zu einer ziemlich nervtötenden Hol-und-bring-Schnitzeljagd, die an Einfallslosigkeit kaum zu überbieten ist.

Dass Déraciné überhaupt versucht, keine reine Virtual Novel, sondern zumindest im Ansatz auch ein klassisches Adventure zu sein, ist vermutlich bereits sein erster Fehler. Denn so stehen die Rätsel der Geschichte lediglich wie Stolpersteine im Weg und lassen ihr zu wenig Raum zur Entfaltung.

Die Geschichte wiederum ist nur leidlich in der Lage, das wacklige spielerische Gerüst zu tragen. In geschriebener Form hätte sie vermutlich gerade mal die Länge eines Schulaufsatzes und als solcher wäre sie vermutlich besser aufgehoben. Als Spiel dauert sie knappe drei bis sechs Stunden – abhängig hauptsächlich davon, wie lange man sich über die sperrigen Rätsel die Haare rauft – und ist in dieser Zeit schneller über die Ziellinie gefahren, als sie auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigen kann.

Déraciné - Launch Trailer
Die Dark-Souls-Macher von From Software veröffentlichen am morgigen 06.11.2019 ihren PSVR-Titel Déraciné.

So begrüßenswert es ist, wenn sich ein Videospiel erzählerisch mal ganz unaufgeregt zurückhält, zarte Gefühle über die große Geste stellt, so bleibt Déraciné in seinem Bestreben letztlich doch anfangs zu banal, insgesamt zu seicht und kommt schlussendlich dramaturgisch nur holprig und mit angezogener Handbremse ins Ziel. Wo Life is Strange bei ähnlicher Thematik mitunter zu dick auftrug und den emotionalen Holzhammer überstrapazierte, steht Déraciné ein bisschen zu schüchtern in der Ecke.

Das ist natürlich gleichsam Miyazakis ganz eigener Art geschuldet, Geschichten zu erzählen. Ähnlich wie in Dark Souls befinden wir uns in einer Welt, deren Logik sich mit der unseren nur bedingt begreifen lässt, wodurch sich immer wieder Brüche und Risse im Verständnis der Geschichte auftun, die ihr einen Zauber einschreiben, der mehr als Ahnung denn Gewissheit zu fassen ist.

Wer solcherlei Betrachtungsweisen an einem Videospiel mehr schätzt als Abwägungen von hohlen Messgrößen wie Gameplay und Spielspaß, der dürfte von Déraciné trotz allem fasziniert sein. Alle anderen können es immerhin als Einschlafhilfe zweckentfremden.

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