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Test - Sherlock Holmes: The Awakened : Test: Sherlock Holmes gegen Cthulhu

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Noch dramatischer als das Spiel selbst, ist zweifellos seine Entstehungsgeschichte. Ursprünglich hatte der Entwickler Frogwares aus Kiew bereits mit den Arbeiten an einem neuen großen Open-World-Adventure als Nachfolger seines letzten Hits Sherlock Holmes: Chapter One (Test) begonnen. Doch dann begann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Mitarbeiter wurden zur Landesverteidigung einberufen, sind mittlerweile teils sogar gefallen. Ständige Stromausfälle, instabiles Internet und nicht zuletzt die regelmäßige Flucht in die Luftschutzbunker während der Bombardierung Kiews erschwerten die Arbeit an etwas, das im Vergleich dazu völlig irrelevant scheint, weil es der reinen Unterhaltung und nicht dem nackten Überleben dient: einem Videospiel.

Die Umstände und Widrigkeiten, unter denen die Produktion von Sherlock Holmes: The Awakened stattfanden, dokumentierten die Entwickler zwischenzeitlich wiederholt in bewegenden Videos und Tagebüchern, Grüße der Kollegen in Uniform von der Front inklusive. In meinem Preview-Artikel aus dem Januar bin ich darauf bereits ausführlicher eingegangen. An dieser Stelle will ich mich daher ausschließlich auf die Produktionsgeschichte des Spiels beschränken.

Spieleentwicklung in Zeiten des Krieges

Im Mai letzten Jahres kamen die Entwickler jedenfalls zu dem Schluss, dass die Entwicklung an einem derart großen und komplexen Spiel, wie sie es gerade in Arbeit hatten, unter solchen Umständen nicht möglich war. Ein Plan B musste her, sprich: ein Projekt von deutlich überschaubareren Ausmaßen, das mit flexibleren Arbeitsprozessen und ein wenig finanzieller Unterstützung durch Kickstarter noch zu stemmen ist. Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass es sich bei Frogwares um ein vollständig unabhängiges Studio handelt, ohne finanzstarkem Eigentümer und nicht einmal einem Publisher im Rücken, der in Notfällen wie diesem über monetäre Durststrecken hinweghelfen könnte.

Die Entwickler entschieden sich für ein Remake ihres Spiels Sherlock Holmes: The Awakened aus dem Jahr 2006. Die Story dazu stand immerhin schon fest, das Spiel fällt deutlich linearer aus als der letzte riesige Open-World-Teil der Serie und ist mit einer Spielzeit von etwa 10 Stunden übersichtlich genug, um die Konzeptphase weitgehend überspringen und direkt mit der Umsetzung beginnen zu können, sodass die Produktion innerhalb einer realistischen Zeitspanne auch abgeschlossen werden kann, ohne auf dem Weg dorthin in die Pleite zu schlittern.

Ein moderner grafischer Anstrich, ein paar kleine Anpassungen bei der Story, um das Spiel inhaltlich als Fortsetzung zum Prequel Sherlock Holmes: Chapter One anzuschließen – und fertig ist der Lückenbüßer? So bescheiden klangen jedenfalls die Entwickler, als sie bei der Ankündigung die Änderungen zwischen Remake und Original darlegten. Nach dem Durchspielen müssen wir allerdings höchst erstaunt feststellen: Sherlock Holmes: The Awakened behält allenfalls die Geschichte des 2006er-Spiels bei, krempelt aber abgesehen davon jeden einzelnen Aspekt komplett um und macht es so fit für die Gegenwart.

Egal ob die Rätsel, die Spielwelt, die Mechaniken – Sherlock Holmes: The Awakened macht so gut wie alles vollkommen neu, sodass es nicht nur wie ein völlig neues Spiel wirkt, sondern sich gar die Frage aufdrängt, wie so etwas innerhalb nicht einmal eines ganzen Jahres in Produktion, noch dazu unter derart widrigen Umständen, überhaupt möglich war. Allein dafür gilt den Entwicklern aller Respekt der Welt.

Sherlock Holmes gegen Cthulhu

Inhaltlich schließt The Awakened direkt an den Vorgänger Chapter One an, das den Meisterdetektiv als jungen Mann einführte, der sein Protegé Dr. Watson gerade erst kennengelernt hat und nun mit ihm seinen ersten großen Kriminalfall löst. Noch relativ frisch gestaltet sich daher die freundschaftliche Bande zwischen den beiden, die erst noch Vertrauen aufbauen muss und regelmäßig in Konflikt gerät zwischen der rationalen, genialischen Detektivarbeit und den inneren Dämonen, die Holmes noch immer von den traumatischen Kindheitserlebnissen aus dem Vorgänger mit sich trägt.

Dieser Zwiespalt bildet den spannenden Nährboden für die besondere Thematik von The Awakened, das die Kriminalgeschichten Arthur Conan Doyles mit dem übersinnlichen Wahnsinn von Horrorautor H.P. Lovecraft kreuzt und dadurch eine flirrende Mischung erzeugt, die auf den ersten Blick erzwungen wirken mag, aber durch seinen Grundton psychologischer Traumata und Holmes’ berüchtigtem Drogenmissbrauch erstaunlich gut harmoniert.

Der Fall mehrerer vermisster Personen führt Holmes und Watson auf die Spur einer Sekte, die dem monströsen Gott Cthulhu huldigt, und sie von London aus zunächst in ein Sanatorium in der Schweiz und schließlich in die modrigen Sümpfe von New Orleans schickt. Die Anführer des Kults scheinen von überall auf der Welt Anhänger zu rekrutieren, sie mithilfe chemischer Substanzen gefügig zu machen und auf ein Ritual hinzuwirken, dass die Macht der Alten Götter beschwören soll.

The Awakened erzeugt seinen besonderen Reiz stets auf der Schnittstelle dieser Gegensätze: Handelt es sich bei den rätselhaften Phänomenen, die Holmes zusehends widerfahren, wirklich um das Wirken eines bösartigen Gottes aus einer Dimension des Grauens? Oder lediglich um den Wahn eines irregeleiteten Kultes, dessen Anhänger dem Versprechen von grenzenloser Macht erliegen und ihn durch Drogen und Halluzinationen heraufbeschwören?

Wer angesichts der Vorlage ein Horrorspiel erwartet, lässt sich davon in die Irre leiten. Sherlock Holmes: The Awakened ist trotz allem in erster Linie ein Detektiv-Adventure wie sämtliche seiner Vorgänger. Schreckmomente, bestialische Vorgänge oder unheimliche Begegnungen mit übersinnlichen Monstern sucht man vergeblich. Die Kreuzung mit der Cthulhu-Mythologie bildet vielmehr ein atmosphärisches Grundrauschen, um Fragen nach abergläubischem Wahn, medizinischem Missbrauch und gesellschaftlicher Ausbeutung zu stellen, wie sie die damalige Zeit Ende des 19. Jahrhunderts aufwarf.

Ein erstaunliches Remake in fast jederlei Hinsicht

Wenn man das Remake von The Awakened mit seinem Original von 2006 vergleicht, ist zunächst erstaunlich festzustellen, dass kaum ein Stein auf dem anderen geblieben ist. Die Grundzüge der Geschichte sind dieselben, das war’s dann aber auch schon. Die auffallendste Änderung betrifft natürlich die Grafik, die nun in moderner Unreal-Engine-Qualität erstrahlt, wie sie die Entwickler seit Crimes & Punishments ohnehin in unnachahmlich satter Detailverliebtheit draufhaben.

Allerdings sieht man gerade den hölzernen Charakteranimationen und manch liebloser Ecke die widrigen Umstände ihrer Entstehung und den dadurch fehlenden Feinschliff an. Eher sporadisch in vereinzelten Szenen, wenn etwa die Kutsche durch den mondbeschienenen Tannenwald rauscht oder der Regen um den nächtlichen Leuchtturm peitscht, zeigen die Entwickler die große inszenatorische Klasse, zu der sie eigentlich fähig, hier aber nicht immer in gleichem Maße in der Lage sind.

Viel beeindruckender ist daher, dass The Awakened zwar nicht wie der Vorgänger Chapter One eine einzige große, dafür aber für jedes Kapitel eine eigene kleine Mini-Open-World entwirft. Das Londoner Hafenviertel etwa, das Holmes und Watson zu Beginn des Spiels aufsuchen, besteht nicht einfach nur aus ein paar Gebäuden, die für das Erzählen der Geschichte unbedingt notwendig sind, wie es jeder andere Entwickler, selbst unter günstigeren Produktionsumständen, vermutlich gehandhabt hätte.

Stattdessen findet ihr euch in einem komplett modellierten Stadtviertel wieder, für das erstmal ungefähr 30 Minuten benötigt werden, um es zu erkunden und sich einen groben Überblick zu verschaffen, der trotzdem nicht ausreichen wird, um sich nicht regelmäßig zu verlaufen, angesichts der schieren Menge an Straßen und verwinkelten Gassen. Sogar für Nebenquests haben sich die Entwickler die Zeit genommen, wenngleich sie qualitativ höchst schwanken und daher den Spielfluss meist eher stören, zumal sie auch keinerlei spielerisch sinnvolle Belohnung versprechen. Aber hey, immerhin.

Am erstaunlichsten an diesem Remake fällt jedoch auf, dass die Entwickler die seinerzeit recht spröden klassischen Adventure-Inventarrätsel komplett durch die Detektiv-Spielmechaniken ersetzt haben, die die Serie seit ein paar Jahren höchst gewitzt auszeichnen. Will heißen: Ihr sucht Tatorte nach Hinweisen ab, rekonstruiert Tathergänge und kombiniert gewonnene Erkenntnis in Holmes’ Gedankenpalast zu Schlussfolgerungen, die euch neue Spuren und Handlungsoptionen eröffnen.

Sherlock Holmes: The Awakened - Launch-Trailer kurz vor dem Release veröffentlicht

Am 11. April 2023 werden die ukrainischen Entwickler von Frogwares das neue Adventure Sherlock Holmes: The Awakened veröffentlichen - den Launch-Trailer gibt es aber vorab.

Die Entwickler setzen dadurch konsequent den Weg fort, der zur jahrelangen Erfolgsgeschichte der Reihe beigetragen hat. Jedoch ist dem Spiel auch in diesem Punkt die schwierige Entstehungsgeschichte anzumerken. Vor allem die logischen Verknüpfungen im Gedankenpalast wirken oftmals recht undurchschaubar, lassen sich im Zweifel aber mit etwas Trial & Error stets lösen. Manches Rätsel, etwa wenn ihr einfach nur ein paar Passanten so lange befragen müsst, bis sie brauchbare Informationen ausspucken, wirkt etwas uninspiriert und aus Zeitmangel hingeschludert, und die vereinzelten Quicktime-Events im Finale muten eher nach kreativer Hilflosigkeit denn nervenkitzelndem Showdown an.

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Zudem fehlt dem Spiel gerade zu Beginn ein anständiges Tutorial, das in die vielfältigen Spielmechaniken einführt, was dazu führt, dass man anfangs mitunter länger auf dem Schlauch steht als nötig wäre. Auch der Geschichte muss man attestieren, dass sie zwar zweifelsfrei ihren Zweck erfüllt, sich darüber hinaus aber nicht gerade durch erzählerische Brillanz hervortut.

Nichts davon stört jedoch das Spielerlebnis nachhaltig. The Awakened ist als Notgeburt zweifellos in jederlei Hinsicht meilenweit von seinem Vorgänger Chapter One entfernt, worauf aber allein schon der sehr faire Preis von 40 Euro ganz offen und ehrlich hinweist. Den ist es für das Gebotene aber allemal wert. Und für die Unterstützung der Entwickler sowieso.

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